Alec Soth: Limmattaler Tagebuch, 2024

In der ersten Nacht in Baden bin ich mit Jetlag auf­ge­wacht, der Mond war wie ein Zei­chen.

Astrid Schaff­ner, Scha­ma­nis­mus, Homöo­pa­thie

Astrid hat die Wand ihres Wohn­zim­mers gestri­chen, weil es kein Fens­ter gibt. Nach einem Räu­cher­ri­tual mit Salbei führt sie ihre Gäste ins Haus. Mit Decken aus der Schwitz­hütte im Garten macht sie auf dem Boden ein Bett. Wenn sie und ihr:e Besucher:in sich wohl fühlen, legen sie sich hin und halten sich an den Händen. Wäh­rend der Sit­zung ent­hüllt Astrid das spi­ri­tu­elle Kraft­tier ihrer Besu­chen­den. Ich wollte mein Tier ken­nen­ler­nen, aber auch Fotos machen. Es fühlte sich falsch an, beides zu tun.

Der Garten der Scha­ma­nin Astrid Schaff­ner.


Gaby Hin­ter­mann, Media­les Tarot


Das Ate­lier der Tarot­kar­ten­le­ge­rin Gaby Hin­ter­mann.

Gaby sagte mir, ich solle die neun Stäbe los­las­sen und die Köni­gin der Kelche umar­men.

Neun Stäbe: kampf­müde, Wäch­ter, eigen­sin­nig, müde, krank, männ­lich
Köni­gin der Kelche: emo­tio­nale Tiefe, Intui­tion, Mit­ge­fühl, Hei­lung, weib­lich


Mad­laina Janett, Heb­amme, Ayur­veda

Ich traf Mad­laina, eine ayur­ve­di­sche Hei­le­rin und Heb­amme, auf dem Fried­hof gegen­über ihres Hauses. Sie erzählte mir, dass sie nach dem Tod ihres Vaters einen Scha­ma­nen auf­ge­sucht und erfah­ren habe, dass ihr spi­ri­tu­el­les Kraft­tier ein Ele­fant sei.

Mad­laina erklärt, dass es im Ayur­veda drei Ele­mente (Doshas) gibt, die wie Per­sön­lich­keits­ty­pen funk­tio­nie­ren. Sie benutzte Pro­mi­nente als Ana­lo­gien:

Vata: Luft (Amy Wine­house)
Pitta: Feuer (Heidi Klum)
Kapha: Erde (Seth Rogen)

Mad­laina sagt, dass sie nor­ma­ler­weise schnell her­aus­fin­den kann, wel­ches Dosha jemand hat. Sie dachte, ich wäre eine Mischung aus Vita und Kapha.

Die drei Ele­mente stehen auch für unter­schied­li­che Lebens­pha­sen.

Vata: alt
Pitta: Mitte
Kapha: jung

Mad­laina und ich treten beide in das Vata-Sta­dium ein.

Als ich mich auf das Por­trät von Mad­laina vor­be­rei­tete, lan­dete eine Krähe in der Nähe, aber sie flog weg, bevor ich sie foto­gra­fie­ren konnte. Nach­dem Mad­laina weg war, suchte ich die Krähe.

Mad­laina Janett, Fried­hof Sihl­feld.


Carmen Roth­mayr, Wald­ba­den


Carmen Roth­mayr nahm mich mit auf den Zürich­berg, um mir Shin­rin-Yoku (Wald­ba­den) zu zeigen. Diese Acht­sam­keits­pra­xis wurde in Japan als Reak­tion auf den Tech­no­lo­gie­boom der 1990er Jahre ent­wi­ckelt. Wäh­rend der vier­stün­di­gen geführ­ten Sit­zun­gen legen die Teilnehmer:innen ihre elek­tro­ni­schen Geräte weg und hören auf zu spre­chen. Anstatt Kame­ras zu benut­zen, weist Carmen die Baden­den an, Papier­fens­ter­rah­men zu benut­zen, um «Bilder» zu teilen.


Emma Kunz Grotte

Emma Kunz (18821963) ent­deckte schon als Kind Tele­pa­thie und über­sinn­li­che Kräfte. Mit 18 Jahren begann sie, ihre ersten Patient:innen zu heilen und in Schul­hefte zu zeich­nen. Sie begann geo­me­tri­sche Zeich­nun­gen anzu­fer­ti­gen, die Visio­nen von Ener­gie­fel­dern dar­stell­ten, anhand derer sie Dia­gno­sen for­mu­lie­ren konnte.

In den vier­zi­ger Jahren begann Kunz mit der Radi­äs­the­sie, einer Zei­chen­tech­nik, bei der sie mit Hilfe eines Pen­dels gross­for­ma­tige Zeich­nun­gen auf Mil­li­me­ter­pa­pier anfer­tigte. Kunz arbei­tete kon­ti­nu­ier­lich an einer Zeich­nung, dieser Pro­zess konnte sich über 24 Stun­den hin­zie­hen.

1941 ent­deckte Kunz in einem römi­schen Stein­bruch den Heil­stein Aion A. Der Ort ist heute als Emma-Kunz-Grotte bekannt.

Emma-Kunz-Grotte

Ich bin zum Zürich­berg zurück­ge­kehrt, um wei­tere Ansich­ten zu rahmen, aber ich frage mich, ob es nicht besser wäre, sie zu ver­ber­gen.


Jean­nine Blum, Heil­kräu­ter­kunde

Die Wur­zeln der Alraune ähneln dem mensch­li­chen Körper. Seit Jahr­hun­der­ten wird die Pflanze mit Mythen und Magie in Ver­bin­dung gebracht. Eine Legende besagt, dass die Alraune, wenn sie aus­ge­ris­sen wird, einen Schrei aus­stösst, der jeden lähmt, der ihn hört. Früher wurde die Alraune als Betäu­bungs­mit­tel und Aphro­di­sia­kum ver­wen­det, doch sie ist sehr giftig und kann Hal­lu­zi­na­tio­nen, Krämpfe, Ersti­ckungs­an­fälle und Tod ver­ur­sa­chen.

Jean­nine Blum, Natur­heil­prak­ti­ke­rin, Klos­ter Wet­tin­gen.


Dorin Ritz­mann, Alter­na­tiv­me­di­zin

Dorin ist Haus­ärz­tin und arbei­tet mit tra­di­tio­nel­len, nicht-inva­si­ven Metho­den wie Phy­to­the­ra­pie (Kräu­ter­me­di­zin), manu­el­ler Medi­zin (Ein­satz der Hände zur Dia­gnose und Behand­lung) und medi­zi­ni­scher Hyp­nose.

Im Garten vor ihrer Praxis hält Dorin geret­tete Schild­krö­ten. Die Schild­kröte, die ich foto­gra­fiert habe, ist über sech­zig Jahre alt, wird aber wahr­schein­lich noch dop­pelt so lange leben.

Neben ihrer Praxis und ihrer Gar­ten­ar­beit ist Dorin eine aus­ge­zeich­nete Foto­gra­fin von Pflan­zen und Bäumen, und sie hat auch einen Abstrich von meiner Wange gemacht und meine Zellen foto­gra­fiert.

Dr. med. Dorin Ritz­mann

Dorin gab mir Ginkgo-Trop­fen gegen Tin­ni­tus.


Lucas Arnold, Hyp­nose

Ein Hyp­no­ti­seur lud mich zu einem Tref­fen in einem Wald­park bei Baden ein. Wäh­rend unse­res Spa­zier­gangs beschrieb er den lang­wie­ri­gen Pro­zess, durch den er seine Kli­en­ten führt. Nach einer Weile wurde mir klar, dass der Wald nur ein Treff­punkt war und er nicht die Absicht hatte, mich zu hyp­no­ti­sie­ren. Ich war ent­täuscht, genoss aber den Spa­zier­gang.

Der Hyp­no­ti­seur ist ein Anhän­ger der Logik und fühlte sich unwohl, als er mit Eso­te­rik in Ver­bin­dung gebracht wurde. Ich sagte ihm, dass ich nicht unbe­dingt glaube, dass es mys­ti­sche Kräfte waren, die uns zu diesem runden, moos­be­wach­se­nen Felsen geführt haben, aber wenn ich Kunst mache, ver­halte ich mich so, als ob es so wäre. Ich habe mich ent­schie­den, anstelle des Hyp­no­ti­seurs den Felsen zu foto­gra­fie­ren.


Mariacris­tina Teot, Inter­di­men­sio­nale Kom­mu­ni­ka­tion

Wäh­rend meiner inter­di­men­sio­na­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sit­zung mit Mariacris­tina Teot sagte sie mir, dass es wich­tig sei, mehr Zeit in phy­si­schem Kon­takt mit der Natur zu ver­brin­gen, ins­be­son­dere mit Bäumen. Nach der Sit­zung in ihrem Büro gingen wir in einen Park, um Fotos zu machen. Ich hatte auf Mariacris­ti­nas Insta­gram gese­hen, dass sie gerne Sel­fies mit spe­zi­el­len Son­nen­re­fle­xio­nen im Hin­ter­grund macht. Es war zu bewölkt, aber ich habe mein Bestes gege­ben, um die Sonne aufs Bild zu bekom­men.


Miriam Meyer, Medi­ta­tion

Meine Assis­ten­tin Bea­trice Signo­rello wurde zu Mirjam Meyers Medi­ta­ti­ons­kurs für Frauen ein­ge­la­den. Der Kurs war auf Deutsch und ich fühlte mich nicht so rich­tig dazu­ge­hö­rig. Später habe ich Bea por­trä­tiert.


Andreas Tröndle, 5‑Rhyth­men-Tanz; Anina Gmür, Per­ma­kul­tur


Andreas Tröndle und Anina Gmür leben auf einem Bau­ern­hof, wo sie ihre Lei­den­schaft für den 5‑Rhyth­men-Tanz und die Per­ma­kul­tur ver­bin­den. Der 5‑Rhyth­men-Tanz ist eine Bewe­gungs­me­di­ta­tion aus den 1970er Jahren, die Scha­ma­nis­mus, öst­li­che Phi­lo­so­phie, Gestalt­the­ra­pie, trans­per­so­nale Psy­cho­lo­gie und Mystik ver­bin­det.

Tröndle und Gmür tanzen gerne im Freien zu Musik, die sie über Kopf­hö­rer hören. Ich habe mich ent­schie­den, beim Foto­gra­fie­ren nicht zuzu­hö­ren. Ich frage mich, warum mir die Bilder besser gefal­len, die ich gemacht habe, als die beiden noch nicht eng mit­ein­an­der tanz­ten.


Corinne Brei­ten­stein, Medium

Corinne Brei­ten­stein ist ein Medium, das mit Ver­stor­be­nen kom­mu­ni­ziert. Sie sagte mir, dass sie nicht mit mir arbei­ten könne, aber sie bot Bea eine Sit­zung an.


Ich sitze im Flie­ger von Zürich nach Las Vegas. Meine Zeit im Lim­mat­tal erscheint mir wie ein Traum. Ich kam mit der Hoff­nung auf kör­per­li­che und geis­tige Ver­jün­gung. Es hat geklappt, aber nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Statt mich vegan zu ernäh­ren, ass ich stän­dig Schnit­zel. Statt mich Hell­se­hern und Scha­ma­nen hin­zu­ge­ben, habe ich Digi­tal­fo­tos gemacht. Aber ich fühle mich krea­tiv erfrischt. Nach­dem ich meine Reise als von unsicht­ba­ren Mäch­ten gelenkt behan­delt hatte, fand ich Zei­chen, die so glän­zend und hell waren wie gol­dene Münzen in einem Mär­chen.

Doch was bedeu­ten diese Zei­chen?

Wenn ich mir das selt­same Foto von mir im Mond­licht ansehe, das ich bei meiner Ankunft gemacht habe, dann sehe ich keinen Men­schen, der den Mond betrach­tet, son­dern einen Foto­gra­fen, der in seine Kamera schaut. Aber ist das so ver­schie­den? Ob man nun als Mys­ti­ker in den Himmel schaut oder als selbst­ver­lieb­ter Künst­ler in den Spie­gel – man sucht nach einer Ver­bin­dung.

Bea und ich spra­chen über John Szar­kow­skis Buch Mir­rors and win­dows, in dem er schreibt: «In der zeit­ge­nös­si­schen Foto­gra­fie gibt es eine grund­le­gende Dicho­to­mie zwi­schen den­je­ni­gen, die Foto­gra­fie als ein Mittel der Selbst­dar­stel­lung betrach­ten, und den­je­ni­gen, die sie als eine Methode der Erfor­schung betrach­ten. Die Absicht dieser Ana­lyse war es nicht, die Foto­gra­fie in zwei Teile zu spal­ten, son­dern im Gegen­teil, ein Kon­ti­nuum anzu­deu­ten, eine ein­zige Achse mit zwei Polen.»

Bea und ich haben unsere eige­nen Posi­tio­nen auf dieser Achse fest­ge­hal­ten. Bea ist pro­mo­vierte Mathe­ma­ti­ke­rin und foto­gra­fiert eher von der Fens­ter­seite aus. Ich ver­su­che, aus dem Fens­ter zu schauen, aber ich ent­komme selten meinem eige­nen Spie­gel­bild im Glas:

Spie­gel (Aus­druck)

Fens­ter (Erkun­dung)

Im Lim­mat­tal fand ich viele Zei­chen, aber immer waren diese glän­zen­den Münzen kleine Spie­gel. Ich schaute den Leuten in die Augen und sah mich in ihren Pupil­len.

Viel­leicht werde ich eines Tages ohne meine Kamera in die Schweiz zurück­keh­ren. Viel­leicht werde ich sogar eine Augen­binde tragen, anstatt die Welt durch Spie­gel und Fens­ter zu betrach­ten. Ich werde die Hand der Scha­ma­nin halten, die Köni­gin der Kelche umar­men und mit dem Wald kom­mu­ni­zie­ren. Statt einem ande­ren Men­schen in die Augen zu schauen, werde ich ihn fest­hal­ten und tanzen.